Korrespondenz zum Buch "Schein und Wirklichkeit"

Armin Peter war jahrzehntelang, vorwiegend im konsumgenossenschaftlichen Bereich, in den achtziger Jahren für die Öffentlichkeitsarbeit bei der Coop Zentrale AG zuständig.

Gesendet: Samstag, 28. Juni 2014 um 18:28 Uhr
Von: "Armin Peter"
An: "Wilhelm Kaltenborn"
Cc: "Dr. Burchard Bösche"

Betreff: „Schein und Wirklichkeit“

Lieber Wilhelm,

der Vorstand der Zentralkonsum eG hat mir freundlicherweise Dein Buch "Schein und Wirklichkeit" geschickt, und heute habe ich einen Sonnentag im Garten damit verbraucht, das Buch zu lesen. Darf ich den Aufsichtsratsvorsitzenden und Autor bitten, meinen Dank dem Vorstand zu übermitteln?
Dein Buch war voller spannender Dinge und - für mich! - überraschender Einsichten.
Ich war immer davon überzeugt, dass die Verbands-Pflichtmitgliedschaft eine wichtige Sache sei. Als ganz junger Genossenschaftsnovize musste ich als Technischer Berater an den Tagungen der ILO 1965 und 1966 teilnehmen, wo eine Empfehlung über die Genossenschaften in den Entwicklungsländern verabschiedet wurde. Mein ZdK-Vorstand vergatterte mich strengstens, dafür zu sorgen - und ich musste auch den Kollegen Dr. Markmann vom DGB davon überzeugen! -, dass die Pflichtmitgliedschaft Eingang in das Dokument fand. Was auch gelang. Damals lernte ich aus vielen Diskussionen mit Genossenschaftern aus der ganzen Welt, dass die Genossenschaften in vielen Ländern von den Regierungen an sehr kurzer Leine geführt werden, und für diese Genossen war das Beispiel der deutschen Pflicht-Mitgliedschaft als Ausdruck genossenschaftlicher Autonomie gegenüber dem Staat sehr wichtig. Ich habe später auch für die Friedrich-Ebert-Stiftung und für coop Beratungen in Ländern der Dritten Welt gemacht oder Seminare durchgeführt, und immer wieder fand ich bestätigt, dass die Verbandsmitgliedschaft (wenn auch nicht unbedingt, aber doch zweckmäßigerweise als Pflicht) große Vorteile bietet. Was ich mir nie klar gemacht hatte, war, dass die Pflichtmitgliedschaft erst 1934 eingeführt wurde (mein erster Vorgesetzter, Dr. Carl Schumacher, hat möglicherweise als Verbandssyndikus in dieser Zeit auch seine Finger im Spiel gehabt) und dass darin ein Akt nat.soz. Gleichschaltung liegen könnte. Das hast Du in Deinem Buch sehr schön klar gemacht. Auch Burchard Bösche hat ja auf der letzten Geschichts-Tagung über diese Frage gesprochen. Ich wollte einmal promovieren bei Prof. Molitor, einem Schüler Prof. Ortliebs von der Akademie für Gemeinwirtschaft, später Hochschule für Wirtschaft und Politik, zum Thema "Mediatisierung der Genossenschaften". Aber leider wurde ich gleichzeitig "verurteilt" von meinen Dr. Schumacher, ein Buch über die Genossenschaften im französisch sprechenden Westafrika zu schreiben, und das war für meine "Karriere" wichtiger als ein Doktortitel, an den ich später nicht mehr gedacht habe. Als ich heute Dein Buch las, habe ich oft gedacht: schade, Mediatisierung wäre doch ein schönes Thema gewesen. 
Das Wort "Genossenschaftsdemokratie" habe nie in den Mund genommen. Daran konnte ich nicht glauben - schon gar nicht bei den Konsumgenossenschaften, die natürlich meistens Massenorganisationen waren. Die Vorstände waren Monarchen, oft "lebenslängliche", ja es gab Familiendynastien. Demokratie - alles reiner Formalismus. Dein Beispiel Berliner Volksbank war deshalb so spannend für mich, weil Du einmal im Detail gezeigt hast, woran Demokratie in Genossenschaften scheitert. Aber musst Du immer so sarkastisch schreiben - ist mir auch an anderen Stellen aufgefallen, nicht nur bei den neuseeländischen Antipoden. 
Worin ich mit Dir - und übrigens auch mit Burchard Bösche - nicht so recht übereinstimme, ist die Relativierung der Bedeutung der genossenschaftlichen Rechtsform. Vor allem im Zusammenhang mit dem Universalismus des Dr. Barberini. Ich bin leider ein Institutionen-gläubiger Mensch, und ich meine, jede Initiative braucht einen festen und unverrückbaren institutionellen Rahmen, um überlebensfähig zu sein. Das ist wie mit der katholischen Kirche: es gab die "bewegten" Frühchristen, aber ohne einen Paulus mit seinem organisatorischen Geschick und ohne die ihm nachfolgenden Päpste und Synoden mit ihrem organisatorischen Rigorismus hätte es keine 2000 Jahre Kirche gegeben. 
Herrlich aufschlussreich auch Deine Schilderung und Analyse des komplexen Verbandssystems. Welch ein gewaltiger Fixkostenblock lastet auf den Genossenschaften! Das muss ja alles erst einmal verdient werden für die zu fördernden Genossen! Übrigens: Deine reichlich ironische Darstellung der Förderleistungen ist zwar im Kern berechtigt. Aber denk einmal an die armen PR-Leute, die diese Texte ins Internet und in die Broschüren schreiben müssen. In einem voll entfalteten Wettbewerb gibt es eben nicht allzu viel exklusive Vorteile. Und da gelten dann Mancur Olsons "selektive Anreize", die er für die "Logik des kollektiven Handelns" ausgemacht hat. Was auch für die Gewerkschaften gilt. 
Ich könnte jetzt noch manche Anmerkung, die ich mir am Rand gemacht habe, aufgreifen, aber ich will schließen. Sehr gut hat mir - an verschiedenen Stellen - Deine grundsätzliche Würdigung der Genossenschaften gefallen. Trotz aller Mängel: es sind doch fabelhafte Gebilde, auf die keine Wirtschaftsordnung verzichten darf. Und ja auch nicht kann, wenn es stimmt, dass die Kooperation in "unseren Genen" angelegt oder sich wenigstens in der sozial-kulturellen Evolution positiv ausgewirkt hat. 
Ich gratuliere Dir zu Deiner informativen und kritischen Arbeit! Du wirst sicher erlauben, dass ich meine "Kritik" in einer Kopie auch an Burchard Bösche sende, mit dem ich über Dein Buch gewiss noch sprechen werde.

Mit einem genossenschaftlichen Gruß! 

Armin


Gesendet: Samstag, 05. Juli 2014 um 17:37 Uhr
Von: "Wilhelm Kaltenborn"
An: Armin Peter
Betreff: Genossenschaften

 Lieber Armin,
 
herzlichen Dank für Deine ausführliche Reaktion auf mein Buch. Du gibst hochinteressante und ziemlich komplexe Informationen. Was Carl Schumacher betrifft: Wenn ich mich nicht täusche, kam er erst so spät (relativ kurz vor dem Krieg?) zum Reichsbund der Verbrauchergenossenschaften, dass er kaum etwas zur Zwangsmitgliedschaft beigetragen haben könnte. Oder? Zu Deinem Vergleich mit der katholischen Kirche sehr ich eine genau entgegengesetzte Interpretationsmöglichkeit (Deiner Intention entgegengesetzt): Im Laufe der Geschichte haben sich viele andere Formen von Kirchen entwickelt, die orthodoxen Kirchen, die Kirchen, die aus der Reformation entstanden, die Anglikaner, die Altkatholiken und unglaublich viele Sekten. Sie haben alle wesentliche Merkmale gemeinsam, die sie als christliche Kirchen kennzeichnen, die Offenbarung, die Bibel (in gewissen Varianten), den Glauben an Kreuzigung und Auferstehung usw. Bei manchen Kirchen oder Sekten mag man unterschiedlicher Meinung sein, ob sie noch wirklich zur christlichen Welt gehören (bei den Mormonen z.B.). Auf die Genossenschaftswelt angewendet bedeutet das: Es gibt bestimmte Merkmale, die sie definieren: Freiwilligkeit, Wahl der Entscheidungsträger, Autonomie usw. Der Internationale Genossenschaftsbund hat einen Katalog von Merkmalen aufgestellt. Ein eigenes Genossenschaftsgesetz gehört (schon logisch) nicht dazu. Sonst hätten weder Schulze-Delitzsch noch Raiffeisen schon in den 1840er Jahren Genossenschaften gründen können. Denn das Gesetz kam fast zwei Jahrzehnte später. Und sonst gäbe es in vielen Ländern gar keine Genossenschaften, in den USA z. B. Und es gibt Mischformen, bei denen man lange darüber nachdenken müsste, ob sie nun noch Genossenschaften sind oder nicht. Im Übrigen habe ich ja überhaupt nichts gegen eine rechtliche Abgrenzung der genossenschaftlichen Form. Ich meine nur, es gibt auch Genossenschaften in Deutschland, ohne dass sie die Rechtsform gewählt haben. Zur Zwangsmitgliedschaft: Ich habe nichts gegen die Existenz von Genossenschaftsverbänden und ich habe nichts gegen Pflichtprüfungen. Ich halte nur sehr viel von Freiwilligkeit. Ich bin außerdem sehr sicher, dass auch bei der Möglichkeit einer freien Entscheidung darüber, ob eine Genossenschaft einem Verband beitreten will, sich fast alle einem Verbvand anschließen würden.

Ich hoffe, ich habe mich verständlich gemacht und ich freue mich auf die nächste Begegnung mit Dir, um zu einem wirklichen Gespräch zu kommen (wir hätten auch noch andere Themen, z. B. Dein Goethe-Buch).

Herzliche Grüße

Dein Wilhelm

(ich sende ebenfalls an Burchard Bösche)

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