Genossenschaftswissenschaftliche Tagung in Wien

Es gibt 15 deutschsprachige Institute, die sich mit Genossenschaftsfragen befassen, davon zwei in der Schweiz und drei in Österreich. Sie alle sind in der Arbeitsgemeinschaft Genossenschaftswissenschaftlicher Institute (AGI) zusammengefasst. Alle vier Jahre findet eine Internationale Genossenschaftswissenschaftliche Tagung (IGT) statt, deren Veranstalter von der AGI bestimmt wird. In diesem Jahr war Wien an der Reihe, um vom 18. bis 20. September die 17. dieser Tagungen zu organisieren. Schon was die Zahl der Anmeldungen betrifft, war es eine große Veranstaltung: Genau 348 Namen umfasst das Verzeichnis der Teilnehmer, von denen 249 aus Deutschland, Österreich und der Schweiz kamen und die übrigen 99 aus aller Welt, aus Kolumbien, Sierra Leone, Russland, dem Iran, aus Südkorea und aus vielen anderen Ländern. Über die Hälfte, nämlich 184 Teilnehmer, war aktiv beteiligt, als Festredner oder als Moderatoren oder Vortragende in einem der insgesamt 29 Workshops. 121 Vorträge, Podiumsdiskussionen, Statements  fanden statt. Beeindruckende Zahlen also bot diese Tagung. Beeindruckend war auch der Ort der Veranstaltungen, nämlich das zentrale Gebäude der Universität Wien, ein prächtiges Stück späthabsburgischer Architektur. Hervorragend war die Organisation dieser umfangreichen Tagung geglückt, eine bewundernswerte Leistung der Veranstalter. Aber das Wichtigste ist: Inhaltlich wurde weitaus mehr geboten, als selbst ein aufnahmefähiger Kopf fassen kann.

Die Tagung stand, sich auf die aktuellen Krisensituationen beziehend, unter der Überschrift: „Genossenschaften im Fokus einer neuen Wirtschaftspolitik“. Dazu sagte Kurt Hagedorn vom Berliner Genossenschaftsinstitut in seinem (wegen eines Irrtums des Versammlungsleiters nicht gehaltenem, sondern nachträglich schriftlich verteiltem Schlusswort), die Tagung habe zwar „eine wichtige Zukunftsaufgabe auf den Tisch gebracht, aber auch gezeigt, dass unser Wissen nicht ausreicht, um hier zu konzeptionellen Vorschlägen“ zu gelangen. Das ist eine wohltuende Ehrlichkeit im Unterschied zu manchen Verlautbarungen aus Genossenschaftsverbänden, die suggerieren, die Krise sei geradezu der Humus auf dem die Genossenschaften nur so sprießen würden. So gab sich zum Beispiel der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbandes (DGRV) Eckhart Ott auf der abschließenden Podiumsdiskussion gerade angesichts der Krise oder vielmehr der Krisen (es wäre schön, wenn wir es nur mit einer zu tun hätten) optimistisch, was das künftige Gedeihen der Genossenschaftsbewegung angeht. Weil, so sagte er, Genossenschaften ja Kinder der Krise seien. Das war denn doch zu kurz gesprungen. Bislang war das Wort im Schwange, Genossenschaften seien Kinder der Not, was etwas anderes ist als Krise. So waren die Konsumvereine Kinder der Verbrauchernöte (schlechte Ware, hohe Preise und schlichtweg Hunger), die landwirtschaftlichen Genossenschaften Raiffeisens waren Kinder der Bauernnöte (Wucherzinsen für den Einkauf des Saatguts, mangelnde Transportmöglichkeiten für die Ernte), die gewerblichen Genossenschaften waren Kinder der Handwerkernöte (Konkurrenz der aufblühenden Industrie mit ihrer Massenproduktion). Als dann vor 140 Jahren eine tiefgreifende Wirtschaftskrise ausbrach, die so genannte „Große Depression“ (die übrigens als Bankenkrise begann), da litt auch die noch junge Genossenschaftsbewegung ganz beträchtlich.

Anders als damals sind die Genossenschaften von der aktuellen Krise – jedenfalls bisher – weniger gerupft worden. Vor allem die Volksbanken haben sich im Gegensatz zu den Großbanken einschließlich der staatlichen Landesbanken ganz prächtig geschlagen. Darauf verwies Ott dann auch auf der Podiumsdiskussion in Wien voller Genugtuung, zu Recht. Allerdings hat diese Entwicklung eine merkwürdige Unsicherheit im genossenschaftlichen Selbstbewusstsein von Volksbanken offenbart. Vor der Bankenkrise gab es einige Volksbanken, auf deren Homepages der Hinweis darauf, dass es sich bei ihnen um genossenschaftliche Einrichtungen handele, nicht so ohne weiteres zu finden war. Dazu bedurfte es manchmal mehrerer Links und genauerer Lektüre der aufgerufenen Seiten. Es waren vor allem die größeren Volksbanken, die dem Leser gleich nach Öffnung ihrer Homepages davon erzählten, er könne bei ihnen Bankteilhaber werden. Das klingt durchaus besser als Genossenschaftsmitglied. Aktuell scheint man sich wieder stärker auf seinen genossenschaftlichen Charakter zu besinnen. Jedenfalls erscheint auf den großen Werbeplakaten der Berliner Volksbank jetzt gleich zwei Mal unübersehbar das Wort Genossenschaft und Genossenschaftsmitglied. Vor vier Jahren stand auch bei ihr das Wort Bankteilhaber im Zentrum der Werbebotschaft.

Zurück zur genossenschaftswissenschaftlichen Tagung: Robert Schedewy aus Wien stellte als Moderator der Podiumsdiskussion sogar die erstaunlich selbstkritische und bewusst provozierende Frage, ob die Genossenschaften hinsichtlich der Krise eigentlich Teil der Lösung oder Teil des Problems seien. Er tat dies vor allem angesichts der Tatsache, dass die österreichischen Volksbanken von der Krise arg gebeutelt sind, denn sie und vor allem ihr Zentralinstitut hatten sich an den bodenlosen Spekulationen der traditionellen Banken über Gebühr beteiligt. Zu dieser Frage erklärte der Vorstandsvorsitzende des Österreichischen Genossenschaftsverbandes Hans Hofinger klipp und klar, die Zentrale der Volksbanken (an der nicht nur Volksbanken beteiligt waren) habe auf Shareholder Value gesetzt und damit Schiffbruch erlitten. 

Überhaupt, das Faszinierendste an dieser Wiener Tagung war für mich die Fähigkeit der österreichischen Genossenschaftswelt, gerade auch der Verbände, selbstkritisch zu sein und aus den dadurch gewonnenen Einsichten mit Schwung und doch behutsam den Weg in die Zukunft zu beschreiten. Bei unserem südlichen Nachbarn ist offensichtlich auch der Blick erheblich weiter, geht über den Zaun des eigenen Krals hinaus. Ein Beispiel für diese Haltung: In einem der Workshops stellte Georg Miribung, ein Wissenschaftler aus Innsbruck, das Forschungsprojekt vor, an dem er gerade arbeitet. Der Titel des Beitrages lautete: „Das Genossenschaftswesen in Südtirol“. Tatsächlich ist der Gegenstand seiner Forschung die Bildung von Netzwerken. Das ist weit mehr, als üblicherweise gerade in Deutschland unter Genossenschaften oder gar Genossenschaftswesen verstanden wird.

Genau dieses deutsche Genossenschaftswesen ist da enger. Wenn eine demokratisch strukturierte wirtschaftliche Selbsthilfe mehrerer Subjekte (um den Tatbestand sehr allgemein zu umschreiben) sich nicht unter das Genossenschaftsgesetz stellt, findet sie für das Genossenschaftswesen (im Klartext: für die Verbände) nicht statt. Das genossenschaftliche Potential, das sich in solchen Kooperationen beweist, bleibt außen vor. Mir scheint diese Mentalität sehr bedauerlich zu sein. In den deutschen Genossenschaftsinstituten dagegen setzt man erfreulicherweise allmählich stärker auf die Konzeption und Konstruktion einer Kooperationswissenschaft.

Und noch dies: Das, was sich in Deutschland Genossenschaftswesen nennt, neigt eher zur Selbstgefälligkeit. Der Unterschied zur bescheideneren  österreichischen Mentalität zeigte sich für mich am deutlichsten in den Darstellungen und Bewertungen der genossenschaftlichen Neugründungen.   

Das Kölner Genossenschaftsinstitut stellte dazu eine aktuelle Studie vor. Danach wurden 2011 in Deutschland 370 Genossenschaften gegründet. Das ist gegenüber den 56 Neugründungen zehn Jahre zuvor unbestreitbar ein beträchtlicher Anstieg. Nur: Im Jahr 2010 gab es unter einer knappen Million (genau: 974.359) Unternehmen in Deutschland (ohne Einzelunternehmen und Gewerbebetriebe der öffentlichen Hände) laut Statistischem Bundesamt 5.196 Genossenschaften. Das sind 0,53 %. Ein Jahr vorher war der Anteil höher, wenn auch minimal. Er lag nämlich bei 0,54 %. Den Gründungen bei allen Rechtsformen stehen nämlich Betriebsaufgaben gegenüber. Bei Genossenschaften geschieht das überwiegend aufgrund von Fusionen. Allerdings gibt es auch dort immer wieder Insolvenzen, im Jahr 2009 waren sie 14-mal zu verzeichnen. Im Ergebnis war jedenfalls der Nettozuwachs bei den anderen Rechtsformen höher als bei den Genossenschaften. Insgesamt nahm von 2009 zu 2010 die Zahl aller Unternehmen (wieder ohne Einzelunternehmen und Gewerbebetriebe der öffentlichen Hände) um 1,9 % zu, die der Genossenschaften aber nur um 0,5 %. Das könnte sich 2010 und 2011 angeglichen haben, aber von einem genossenschaftlichen Gründungsboom zu sprechen, wie es der DGRV immer wieder tut und wie es in Wien auch die Kölner Wissenschaftler formulierten, ist angesichts eines Blicks auf alle Rechtsformen allzu euphemistisch.

Gründungsboom hin, Gründungsboom her, Deutschland hat im Vergleich zu anderen Ländern einen sehr geringen Besatz an Genossenschaften. So gibt es in Deutschland je 15.762 Einwohner eine Genossenschaft, in Österreich je 5.667 und in Schweden sogar nur je 731 Einwohner. Unter den österreichischen Genossenschaftern wird die sehr geringe Zahl von Neugründungen (im Schnitt 14 je Jahr) bedauert und sowohl intensiv als auch vielversprechend darüber nachgedacht, wie Gründungen von Genossenschaften in größerer Zahl initiiert werden könnten. Man nimmt sich gern Deutschland zum Vorbild. Damit wird übersehen, dass bei gleichbleibender Zahl von genossenschaftlichen Neugründungen Deutschland 33 Jahre brauchte, um das gleiche Verhältnis von Einwohnern und Zahl von Genossenschaften zu erreichen, wie in Österreich schon heutzutage zu verzeichnen ist. Die Österreicher wären jedenfalls gut beraten, wenn sie statt nach Deutschland nach Skandinavien sehen würden. Dort sind – ebenso wie in etwa in Italien oder Frankreich – Idee und Praxis von Genossenschaften in der gesamten Gesellschaft wesentlich tiefer verankert als bei uns.

Abschließend sei noch auf eine interessante Information hingewiesen. Von Seiten des DGRV wurde in Wien im Rahmen eines Workshop-Beitrages darüber informiert, dass er 2011 in seinem Bereich 272 Gründungen von Genossenschaften zu verzeichnen habe. Insgesamt aber gab es ja im diesem Jahr laut Kölner Institut 370 Gründungen. Das bedeutet, dass sich 98 neue Genossenschaften (gleich 26 % aller Neugründungen) anderen Verbänden angeschlossen haben, als im DGRV vereint. Wenn die mitgeteilten Zahlen korrekt sind und wenn sich dieser Trend fortsetzt, liefe das auf eine größere Vielfalt an genossenschaftlichen Verbänden hinaus, einschließlich einer größeren Konkurrenz unter ihnen. Wir werden sehen.

Wilhelm Kaltenborn

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