Leserzuschrift an den Autor Wilhelm Kaltenborn und dessen Antwortschreiben

Schwerin, den 03.05.2015

Sehr geehrter Herr Kaltenborn,

mit großer Aufmerksamkeit und Interesse habe ich Ihr Buch „Schein und Wirklichkeit“ gelesen. Ich muß Ihnen dafür ein großes Lob aussprechen.

Als ehemaliger DDR-Bürger ist der Stolz auf unser Leben ein wenig in Grenzen gehalten.

Wir waren aber immer der Auffassung gut gebildet zu sein. (Mein Bildungsweg: geb. 1938, Berufsausbildung im Einzelhandel, Abitur, Handelshochschule, Bezirksparteischule der SED, Auslandsstudium in der ehemaligen Sowjetunion)
 
Und dennoch haben Sie mich erwischt.

Natürlich haben wir etwas gewußt von Schulze-Delitzsch oder von Wilhelm Raiffeisen, aber unser Wissen über die historischen Abläufe wie Genossenschaftswesen waren mangelhaft.

Ihr Buch hat einen bleibenden wissenschaftlichen Wert über Deutschland hinaus.

Das die Genossenschaftsgeschichte auf 250 Jahre zurückgeht, Raiffeisen ein fanatischer Antisemit war und der eigentliche Judenhaß tiefe Wurzeln hat, die Vielseitigkeit der Genossenschaften und ihre Aufgaben, die Bewertung der Genossenschaften während der Zeit des Nationalsozialismus, oder auch die Bewertung des Genossenschaftswesens nach 1945 und nach 1990 waren und sind für mich eine bedeutende Erweiterung meines Wissens.

So kann ich Ihnen nur danken für den Fleiß, den enormen Aufwand und den Inhalt Ihres Buches.
 
Bleiben Sie gesund.
 
Ihr J. H.
 

05. Juni 2015
 

Sehr geehrter, lieber Herr H.,

haben Sie herzlichen Dank für Ihren so freundlichen Brief. Es war für mich eine überraschende Freude, nach langer Zeit wieder von Ihnen zu hören. Mich haben ja die Erinnerungen förmlich überrollt an unsere gemeinsamen Probleme in den Neunzigern in Hinblick auf Eigentumsrechte, Restitutionsansprüche, Entscheidungen der Finanzbehörden und was es sonst noch an Beeinträchtigungen gab.

Mich berührt Ihre Feststellung, ich hätte Sie „erwischt“. Denn das wirklich Bedrückende am deutschen Genossenschaftswesen ist, dass es selbst so wenig weiß über seine eigene Herkunft, seine ursprünglichen Ansätze und Zielsetzungen (bei Schulze-Delitzsch und Raiffeisen), seine Entwicklungen. Seit Jahrzehnten werden die immer gleichen Gebetsmühlen gedreht, die immer gleichen Schlagwörter verkündet. Das Schlimme ist, dass man in den Verbänden (und die sind nun mal das eigentliche Genossenschaftswesen) sich zufrieden gibt mit der eigenen Unkenntnis und ihrer Verhüllung durch die überhaupt nicht durchdachten Schlagwörter (an ihrer Spitze: Selbsthilfe, Selbstverwaltung, Selbstverantwortung).

Ich kann Ihnen noch ein höchst peinliches Beispiel geben: Es gibt zwei Vereine, jeweils unter der Bezeichnung „Gesellschaft“ (Schulze-Delitzsch-Gesellschaft und Raiffeisen-Gesellschaft), die erreichen wollen, dass die UNESCO die „Genossenschaftsidee“ zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt. Wie immer man nun zu dieser Überlegung stehen mag, das Mindeste, das man wohl erwarten kann, ist: Die Begründung dazu ist wohl durchdacht und in ihren Feststellungen über Tatsachen unangreifbar. Das sollte man meinen, aber Pustekuchen. In der Begründung der beiden Gesellschaften wird allen Ernstes behauptet, die Genossenschaften in Deutschland seien von Beginn an (also seit Schulze-Delitzsch und Raiffeisen) parteipolitisch und religiös ungebunden gewesen. Nun hat Raiffeisen sein Konzept nur in einem einzigen Buch, „Die Darlehnskassen-Vereine“,  dargestellt und sonst nur Artikel veröffentlicht. In diesem Buch hätte man nur bis zur Seite 11 lesen müssen, um zu erfahren, dass das Jesus-Wort „Was ihr getan habt einem dieser meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan“ für Raiffeisen „die Grundlage der Darlehnskassen-Vereine und deren ganzer Organisation“ bildet. Und das wird als religiös ungebunden bezeichnet. Später kam es sogar zu einer katholischen Genossenschaftsbewegung, die sich als Teil der katholischen Sozialbewegung verstand und ihren Rückhalt bei der Kirche hatte. Auf der anderen Seite waren die Schulzeschen Genossenschaften Bestandteil der wesentlich von ihm (Schulze-Delitzsch) mitgestalteten liberalen und nationalen Bewegung, die - gegen Bismarck - eine andere Gesellschaft und einen anderen Staat erreichen wollte. Das war ebenso wenig parteipolitisch ungebunden wie später die Hamburger Richtung der Konsumgenossenschaften. Die stand auf der linken Seite, also parteipolitisch bei der SPD.

Das heißt also, sowohl die Schulze-Delitzsch-Gesellschaft als auch die Raiffeisen-Gesellschaft haben keine Ahnung von ihren eigenen Namenspatronen. Es ist zum Heulen. Wenn schon nicht die Genossenschaftsverbände sich um ihre eigene Herkunft kümmern, dann sollten doch wohl wenigstens diese beiden Namensgesellschaften zuverlässige und zutreffende Informationen verbreiten. Wenn Sie, lieber Herr Hardes, also versucht hätten, die Lücken im DDR-Bildungssystem hinsichtlich der Genossenschaftsgeschichte bei den Genossenschaftsorganisationen im Westen auszufüllen, wären Sie auch nicht weiter gekommen.

Übrigens mir scheint, darin sind sich deutsches Genossenschaftswesen und DDR-Herrschaftspartei ähnlich: Mangelhafte Wahrnehmung der Realitäten und stattdessen ständiges Beschwören ideologischer  Versatzstücke.

Aber wenigstens hatte ich jetzt die Freude, nach langer Zeit wieder von Ihnen zu hören oder vielmehr zu lesen. Ich hoffe, es geht Ihnen zufrieden stellend oder noch besser. Noch einmal herzlichen Dank für Ihren guttuenden Brief.

Seien Sie gegrüßt (und grüßen Sie mir Schwerin – ich war lange nicht mehr da)

von Ihrem 

Wilhelm Kaltenborn

 

 

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