Zwang oder Pflicht? Zu einem Urteil des Bundesgerichtshofs

► BGH Urteil vom 10.01.2017

Darum ging es: Eine Genossenschaft – bereits Mitglied in einem Prüfungsverband – erwarb zusätzlich die Mitgliedschaft in einem zweiten Prüfungsverband und wollte sich dann von diesem - und nur von diesem – prüfen lassen. Der ursprüngliche Verband klagte auf Duldung der von ihm vorzunehmenden Prüfung. Das zuständige Landgericht wies die Klage ab, aber im Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht wurde der Klage stattgegeben. In der Revision schloss sich der BGH dieser Entscheidung an. Allerdings hatten sich die Parteien inzwischen außergerichtlich auf eine einvernehmliche Regelung verständigt.

Das BGH-Urteil wurde am 10. Januar 2017 verkündet, die schriftliche Begründung liegt jetzt vor (II ZR 10/15). Sie enthält Widersprüche.

Ein Argumentationsstrang bezieht sich auf die Änderung des Genossenschaftsgesetzes vom 30. Oktober 1934, seit der zwei Vorschriften unverändert gelten, nämlich: „Die Genossenschaft muss einem Verband angehören, dem das Prüfungsrecht verliehen ist (Prüfungsverband).“ (§ 54) Und: „Die Genossenschaft wird durch den Verband geprüft, dem sie angehört.“ (§ 55). Diese Vorschriften werden in der Begründung des Gesetzes als „Anschlusszwang“ bezeichnet. Korrekterweise werden sie unter dieser Bezeichnung bis 1951 in allem Schrifttum und in allen Kommentaren abgehandelt. Dann hatten die zähen Bemühungen der Verbände Erfolg und das freundlicher klingende Wort „Pflichtmitgliedschaft“ setzte sich durch, merkwürdigerweise auch in den Kommentaren der mehr (oder weniger?) unabhängigen Wissenschaftler.

Jede Interpretation und jeder Kommentar, die sich mit dem Anschlusszwang beschäftigen, sollte das Datum der Gesetzesänderung berücksichtigen, den 30. Oktober 1934. Auf den Tag genau 21 Monate vorher hatte die nationalsozialistische Machtergreifung stattgefunden, mit all den bekannten Folgen: Gleichschaltung aller zivilgesellschaftlicher Organisationen, Verbot von Gewerkschaften, Verbot von Parteien, Errichtung von Konzentrationslagern, Verfolgung von politisch und rassisch missliebigen Personen usw. usw. Die damit einhergehende Vernichtung des Parlamentarismus durch das Ermächtigungsgesetz schon vom März 1933 hatte zur Folge, dass allein die Unterschriften Adolf Hitlers und seines Justizministers ausreichten, um dem oben zitierten Text Gesetzeskraft zu geben. Der dadurch verkündete Anschlusszwang ist ein wichtiger Baustein zur Gleichschaltung der Genossenschaften. In der Begründung zur Gesetzesänderung heißt es unter anderem: „Es bedarf der straffen Zusammenfassung der Prüfung aller Genossenschaften bei den zuständigen Prüfungsverbänden.“ Vorbei war es mit der Unabhängigkeit der Genossenschaften, so wie auch mit dem „freien Geist der Genossenschaften in einer freien Gesellschaft“ (Schulze-Delitzsch).

Der BGH sieht nun in seiner Urteilsbegründung den Gesetzeszweck „auf die Einbindung der Genossenschaft in ein engmaschiges Kontrollsystem und auf die Dauerhaftigkeit des Prüfungsverhältnisses ausgerichtet“ (Rz 11). Diese Feststellung ist historisch legitimiert. Im Jargon des Nationalsozialismus nämlich war damit das Führerprinzip auch bei den Genossenschaften einen wesentlichen Schritt vorangekommen. Interessanterweise sieht der BGH auch den Tatbestand des Zwangs gegeben. Denn in der Urteilsbegründung heißt es: „ Eine Genossenschaft ist „gemäß § 54 GenG gezwungen […], einem Prüfungsverband anzugehören.“ (Rz. 32). Diese Formulierungen machen neugierig: Wie würde wohl der BGH – wäre er dazu befugt – seine Erkenntnisse verfassungsrechtlich bewerten? Wäre das alles für ihn grundgesetzkompatibel? Denn organisatorische Zwänge und engmaschige Kontrollsysteme gegenüber Unternehmen gehören nicht gerade zur Grundausstattung unserer Wirtschaftsordnung.

Aber es gibt Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten: Der BGH spricht in seiner Urteilsbegründung auch von „Pflichtmitgliedschaft“ (Rz 34), wenn er den Anschlusszwang meint. Zwang und Pflicht sind ganz gewiss nicht das Gleiche und die Unterschiede auch rechtlich fassbar.

Aus dem gleichen Absatz ergibt sich, dass nach Meinung des BGH der Anschlusszwang „und die daraus folgende Dauerhaftigkeit der Prüfungsverhältnisse […] wesentliches Element für die institutionelle Unabhängigkeit der Prüfungsverbände“ sei (Rz 34). Was immer das heißen mag (wodurch oder durch wen wird andernfalls die verbandliche Unabhängigkeit bedroht?), als Belegstelle (offensichtlich als Teil der ‚herrschenden Meinung‘) wird der Beitrag von Ernst von Caemmerer in einem genossenschaftsrechtlichen Sammelband aus dem Jahr 1959 herangezogen. Ernst von Caemmerer, renommierter Rechtsprofessor in Freiburg, vertritt in dem gleichen Beitrag die absonderliche These, die „Neuerung“, wie er es nennt, von 1934 habe auf dem „Interesse [an] der Gesunderhaltung des Genossenschaftswesens“ beruht. Nun war bis 1933 nichts sonderlich Krankes bei den deutschen Genossenschaften zu bemerken. Im Gegenteil, sie haben zum Beispiel die extremen Auswüchse der unheilvollen Weltwirtschaftskrise ab 1928/29 erheblich unbeschädigter überstanden als die Aktiengesellschaften und die Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Bei der Beschäftigung mit einem solch sensiblen Thema wie es die Rechtsetzung im Jahr 1934 nun einmal darstellt, sollten auch der Kontext einer Belegstelle und die das Thema umgebenden Felder berücksichtigt werden.

Dann herrschte größere Klarheit.

 

Wilhelm Kaltenborn, März 2017

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